Das Noema der digitalen Fotografie.

Zur Erweiterung der Begriffsspektren und zu den unterschiedlichen Bezugnahmen
von Roland Barthes (1915*) und Vilém Flusser (1920*)
(©BWudtke2016)


In Die helle Kammer formuliert Roland Barthes 1989 das Noema der Photographie(1):
‹Es-ist-so-gewesen›. Was aber bedeutet der Begriff Noema und auf welche Form der
Photographie bezieht sich Barthes in seiner Abhandlung? Weiterführend lässt sich fragen,
was seine Ausformulierung und Definition des Noemas aktuell in Hinblick auf die digitale
Fotografie bedeutet?

Das Noema oder auch ‹der Erkenntnis- oder Denkinhalt› eines Vorgehens ist ein Begriff
der Phänomenologie nach Edmund Husserl, auf den sich nachfolgende Theoretiker wie
auch Roland Barthes berufen. Husserl unterscheidet im menschlichen Vorgehen zwischen
den Bewusstseinsströmen, die sich auf reale Objekte beziehen, und den Erkenntnisakten.
Er bezeichnet die Erfassung eines Realobjektes, den sinnbildenden Bewusstseinsakt als
Noesis und im Unterschied dazu den Sinngehalt des Aktes an sich als Noema.
Das Noema bezeichnet somit den übergeordneten, ideellen Sinn des sinnbildenden
Bewusstseins-Aktes; mit Edmund Husserls Worten bezeichnet das Noema eine
«Verallgemeinerung der Idee der Bedeutung auf das Gesamtgebiet der Bewusstseins-Akte»(2).

Im Rückbezug auf Husserls Definition wird somit deutlich, dass es Roland Barthes seinerzeit
darum ging, den ideellen Sinn des Photographierens zu beschreiben. Der Umgang mit der
Photokamera ist bereits ein übergeordneter Akt des Sehens. Dabei geht es nicht mehr um
die Erkennung von Realobjekten die mit dem Auge bereits vor dem Akt des
Photographierens erfasst wurden, sondern um das Festhalten eines Geschehens,
einer Szene, um diese nachträglichen Betrachtung zugänglich zu machen.

Nach Vilém Flusser ist die Kamera kein übliches ‹Werkzeug›, wie etwa der Pflug des Bauern
oder der Hammer des Schmieds – das sind Werkzeuge, die den Bewegungsraum des
Menschen vergrößern und die Funktion der menschlichen Gliedmaßen verstärken. Im Falle
der Photokamera «bewegt sich nicht nur der Apparat in Funktion des Fotografen, sondern
auch der Fotograf in Funktion des Apparates. Er ist ‹Funktionär› des Fotoapparates. […]
Es ist kein ‹absichtsloses Schauen›, sondern es spiegelt die Struktur des Apparates und
die Absicht, eine von einem Empfänger zu betrachtende Fotografie zu erzeugen, wider.»(3)
Soweit stimmen die phänomenologischen Betrachtungen der beiden Autoren zur
Photographie/Fotografie überein. Die detaillierten Unterscheidungen welche die beiden
Theoretiker in ihren Ausführungen weiter vornehmen, lassen sich als Folge einer Hin- oder
Abwendung vom phänomenologischen Ansatz verstehen und scheinen darüber hinaus
durch unterschiedliche Haltungen – (Kultur-)Kritik einerseits und Bewunderung der
zeitgenössischen Fotografie andererseits – begründet. Auch lassen die verschiedenen
Beispiele, die innerhalb ihrer zahlreichen Ausführungen herangezogen werden, von einander
verschiedene Bezugnahmen deutlich hervortreten: auf die analoge Photographie
(Materialabdruck/Abbild) bei Barthes und die digitale Fotografik(4) bei Flusser, deren
digitale Struktur mit dem numerischen Code der Computergrafik (Komputation) im Strom
der algorithmischen Kommunikation identisch ist.

Das Noema des Fotografierens – ob nun analog oder digital – scheint zunächst in beiden
Fällen auf eine Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit anhand eines Fotos zu beruhen.
Mit der Festlegung ‹Es-ist-so-gewesen› rückt Barthes die «phänomenologische Evidenz,
d.h. die Verbindung von Realität und Vergangenheit»(5) in den Vordergrund und unterstreicht
damit den direkten Bezug des Fotos zur Welt. In Die helle Kammer belegt er seine
Ausführungen ausschließlich mit Beispielen aus der Amateur- und Dokumentarphotographie.
Diese Bezugnahme ermöglicht es ihm Aussagen über die photographische Struktur als Produkt
der Aufzeichnung, als Materialabdruck, als Abbild der vorgefundenen Welt zu machen, die zwar
konnotativ, also stilgebend vom Autoren beeinflusst werden kann und dennoch aufgrund der
opto-chemischen Phototechnik auf einer denotativen ‹puren› Aufzeichnungs-Struktur beruht.
Aufgrund dieser ‹Evidenz der Denotation› der analogen Photographie, wird die Aufzeichnung
‹symptomatisch›, im Zuge der künstlerischen Gestaltung des Photographen ‹symbolisch›,
also konnotativ. Die Magie der Photographie und Roland Barthes Faszination für die
Betrachtung historischer Aufnahmen liegt in der Möglichkeit der Aufzeichnung von
Realereignissen begründet. Das festgehaltene Momentum dieser spezifischen Bilder ist
in der analogen Photographie das materialisierte Produkt einer besonderen Simultanität:
des Zusammenfalls von Ereignis, Beobachtung und Darstellung. In diesem Sinne ist ein
analoges Photo auch nicht mit einem Text, dem Zeichensystem der Schrift vergleichbar.
Der Photograph begibt sich bewusst in die Abhängigkeit von der Außenwelt und sucht im
Kontakt zu ihr mithilfe der Kamera Bilder aufzunehmen. Er macht sich bereit, dem Zufall
zu begegnen.

Auch der Zen Buddhist, der eine Kalligraphie anfertigt, begibt sich in Kontakt mit der Außenwelt;
Spontan und aus dem Moment heraus fertigt er seine Kalligraphie, die in der so gezeichneten
Form nicht noch einmal produziert werden kann. Doch das Schriftbild, das er uns damit zeigt,
ist in die Tradition der Schriftzeichensysteme eingebunden und der Pinsel ist sein
Handwerkszeug und nicht – wie im Falle der Kamera – ein komplexer Apparat der Aufzeichnung.
Im Vergleich zum meditativen und spirituellen Vorgehen des Zen Buddhisten wird im Vorgehen
des Fotografen die ‹seelenlose Leere› und Funktionalität einer Maschine zwischengeschaltet.

Die digitale Fotografie kann wie die analoge Photographie zunächst ein vergleichsweise
ähnlicher opto-mechanischer Aufzeichnungsvorgang sein, sofern es sich bei dem Apparat
der Aufzeichnung etwa um eine digitale Spiegelreflexkamera handelt. Bei digitalen
Kompaktkameras oder Smartphones werden dagegen bereits im
Aufnahme-Speicherungsprogramm eine Vielzahl von Gestaltungsvorgaben,
Filtern, Manipulationsmöglichkeiten optional angeboten oder automatisch
voreingestellt (Programmierleistung), so dass es schwierig ist, hier noch vom
Vorgang einer ‹puren Aufzeichnung› zu sprechen. Im Folgenden muss die auf dem
Chip gespeicherte Datei anhand einer zur Kamera passenden Software entwickelt,
bzw. interpretiert werden. Dieser Vorgang kann am Computer aber auch mithilfe
eines Smartphones vollzogen werden. Beide Hardware Komponenten bieten weitere
Möglichkeiten der Bildmanipulation oder Bild-Komprimierung an, sowie das Versenden
der so erhaltenen Computergrafik.

In der analogen Photographie stellt das photochemische Material, das Film- und
Papiermaterial noch eine Notwendigkeit dar. Die digitale Fotografik dagegen tritt erstmals
als algorithmische Interpretation einer Chipdatei auf den verschiedenen Displays in Erscheinung.
Die Apparateprogramme: Kameras, Computer und Metaprogramme: der Fotograf, der zu
beliefernde Kunde/Auftraggeber und Betrachter, das Portal der Ausstrahlung, bestimmen
im Folgenden über das visuelle Vorkommen des so gewonnenen photographisch
anmutenden Bildes und definieren damit seinen Deutungskontext. Mit der
auftragsabhängigen Übertragung des Urheberrechts der Datei, wird das Bild zur
zirkulierenden Datenmenge im globalen Kommunikationsnetz, dem Internet.
Auf diese Weise kann es z. B. zeitgleich auf öffentlich rechtlichen Nachrichtenportalen
wie auch auf ‹sich-selbstprofilierenden› (ebenso nicht privaten) Webseiten und
Kommunikationsportalen oder Suchmaschinen auftauchen und auch wieder verschwinden.

Im Kunstkontext wird die Bilddatenmenge zumeist in Anlehnung an die tradierte Photographie
auf Papier an die Wand gebracht. Digitale Artefakte, Schärfe-Ränder, Pixelstörungen können
zuvor mit einem computer-simulierten Filmkorn verrechnet und unsichtbar gemacht werden.
Baryt-ähnliche Photopapiere verleihen der Druckdatei einen weichen Schmelz in Erinnerung
an gelblich schimmernde Photo-Handabzüge aus dem Labor. «Ein gelungenes Photo» sagt man,
legt aber eine auf Druckpapier ausgegebene Grafikdatei vor, die zuvor eine Vielzahl
computerisierter Rechenprozesse durchlaufen hat. Nicht nur die Farbe, der Kontrast und
die Auflösung können heute in Erinnerung an die photochemische Photographie
(Farbe/SW/Gradation/cross-lowkey-highkey-Entwicklung) justiert werden; es können nun auch
alle Bilddetails aufgrund ihrer Pixel-Struktur mithilfe der Software Photoshop gemorpht,
verschoben, eliminiert, verflüssigt, weichgezeichnet werden. Die digitale Fotografik ist das
Produkt einer optischen Aufnahme, die mithilfe von programmierten computergesteuerten
Grafikprogrammen zum Bild wird.

Die photographische Struktur – und damit die von Barthes bezeichnete ‹Evidenz der
Denotation› – wird in der digitalen Fotografie also zugunsten der nun umfassend möglichen
Kontrolle der algorithmischen Struktur konnotativ aufgelöst, programmatisch zerlegt, für
den Anwender frei manipulierbar. Aus diesem Grund kann man die Struktur des Digitalen,
die numerischen Codes und algorithmischen Figuren nun deutlicher mit der Struktur von
Texten vergleichen, die aus Buchstaben des Alphabets oder anderen Schriftzeichen
zusammengesetzt sind. Die einzelnen Teile und Partikel lassen sich hierbei nicht wahllos
verändern ohne Chaos und Kauderwelsch zu erzeugen, sondern frei im Sinne des Autors
und der Systeme der jeweiligen Zeichenprogramme (Sprache, Grammatik/Computersprache,
optische Logik).

Indem sich Flusser bevorzugt auf das synthetische Bild und die digitale Kommunikation bezieht,
kann er das Universum der technischen Bilder in Abhängigkeit des Weltzuganges von
verschiedenes Systemen der Codierung beschreiben. Für ihn existiert unterhalb der
kodifizierten Welt, der Weltbeschreibung, keine ‹konkrete Wirklichkeit› und damit in der
Fotografie auch keine ‹Evidenz der Denotation›. Alle technischen Bilder sind ‹symbolisch›,
nicht ‹symptomatisch›, der Fotograf erzeugt keine Abbildungen sondern Einbildungen,
Vorstellungen, die die Sicht auf das ‹so-gewesen› geradezu verstellen. Kommuniziert wird
eine Perspektive, ein Standpunkt, eine Weltanschauung und damit eine pure ideologische Geste.
Im Flusserschen System werden fotografische Bilder zu Begriffen und das Noema der
(digitalen) Fotografie zur Hypothese: ‹Es-ist-so-kalkuliert›.

Doch entgegen der Annahme einer ideologischen Durchrechnung optischer Aufnahmen lässt
sich bemerken, dass die Maschine – die Kamera – nicht denkt. Sie versteht nicht was sie tut.
Erst im weiteren Prozess hängt der sehende oder programmierende Mensch seine
Interpretationssysteme an den Vorgang der Aufzeichnung.
Die Aufzeichnung selbst passiert im Falle der Maschine ‹automatisch/seelenlos/dumm›, im Falle
des Menschen zumeist spontan – sogar blind im jeweiligen Aufnahmemoment, in dem die Optik
sich schließt. In der Fotografie haben wir es grundsätzlich mit dem bereits beschriebenen,
spezifischen Zusammenfall von Ereignis, Beobachtung und Darstellung zu tun – einem
Momentum, dass beim nachträglichen Studium des Betrachters erst zur Wirkung kommt.
Erst dann gewinnt der aufgezeichnete Moment an Bedeutung, wenn ein Bild vom Fotografen
ausgewählt wird, wenn nach Barthes etwa ein Punktum, ein unintendiertes Detail den Betrachter
besticht und damit vor allem jene historischen Photographien an Sinn gewinnen, die in Folge
einer spontanen oder aber dokumentarischen Geste des Photographierens entstanden sind.
Von Bildmanipulationen, aufwendigen Bildcollagen und Studio-Inszenierungen ist in seinem
Buch Die helle Kammer nicht die Rede. Die Magie, die er der Fotografie zuschreibt, liegt im
besonderen Verhältnis zur Welt, die nie ganz vom erklärbaren (kalkulierten) und erzählbaren
(begrifflichen) Sinn geschluckt wird. Auch wenn die Schrift im Deutungskontext einer Fotografie
großen Einfluss auf die Verstehbarkeit des Bildes nimmt, kann das Foto nie vollständig abhängig
von ihr sein. Nach Barthes wird jedes Foto vielmehr «falsch auf der Ebene der Wahrnehmung
und wahr auf der Ebene der Zeit»(6). Das Noema ‹Es-ist-so-gewesen› gilt demnach im Falle
jeglicher fotografischer Aufzeichnung – analog wie digital – insofern auf weiterführende
Verarbeitungen durch kalkulierbare Systeme und aufwendige Bildmanipulationen verzichtet wird.
Wird aber in Folge einer digitalen Manipulation die fotografische Struktur verschoben, in Teilen
eliminiert oder collagiert muss darauf hingewiesen werden: ‹Es-ist-nicht-so-gewesen›.
Es handelt sich um neuzeitliche Trugbilder, die sich in die Masse photographischer und
photographisch anmutender Bilder mischen. Das Universum technischer Bilder umfasst heute
eine Vielzahl digitaler und digitalisierter Bildformen, die nur noch anhand einer interessierten
Auswahl, ihrer spezifischen Unterscheidung und sorgfältigen Lesart an Bedeutung gewinnen
können. Die analytische Ausdifferenzierung fotografischer Bildstrukturen kann ein Anliegen
postdigitaler Fototheorien sein.

(©BWudtke2016)

(1) Fotografie/Photographie, Wortherkunft griechisch φῶς, phos, im Genitiv: φωτός, photós, Licht
(der Himmelskörper), Helligkeit und γράφειν, graphein, zeichnen, ritzen, malen, schreiben,
http://de.wikipedia.org/wiki/Fotografie, gesehen am 20.04.16. Es scheint, als sei die alte
Schreibweise ‹Photo-graphie› in der deutschen Schriftsprache erhalten geblieben, da sie Bezug
nimmt auf alte Verfahrensweisen des photochemischen Handwerks – insbesondere auf die
Licht(ein) schreibung als materialgebundenen Abdruck. Im online-Duden wird ‹Foto-grafie›
lediglich als Verfahren zur ‹Herstellung dauerhafter, durch elektromagnetische Strahlen oder
Licht erzeugter Bilder› bezeichnet, womit nicht nur die Deutung des zweiten Wortbestandteils
offen bleibt. Diese Untersuchung sammelt Beschreibungen und Zitate aus der Zeit der
Übergangsgeneration. In dieser Phase vermischen sich auch die verschiedenen Schreibweisen/
Übersetzungen: Photographie (Photography), Fotografie. Diese Schreibweisen entsprechen
oftmals den unterschiedlichen Bezugnahmen in der Übergangszeit der Digitalisierung.
(2) K. Schuhmann (Hg.): Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie, Husserliana Bd. III Den Haag 1976, 89.
(3) K. Schuhmann (Hg.): Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie
und phänomenologischen Philosophie, Husserliana Bd. III Den Haag 1976, 89.
(4) Digitale Fotografiken sind alle Fotos die als Computergrafiken interpretiert werden;
Gottfried Jäger benutzt die Spezifizierung Fotografik bereits 1988 als Sammelbegriff für
alle analogen bildnerischen Verfahren, bei denen fotografische und grafische (zeichnerische,
drucktechnische, montierende) Mittel zusammenwirken; ‹ihr Kennzeichen ist das
Zusammenspiel zwischen Apparat (Foto) und Hand (Grafik)›. in: Gottfried Jäger:
Bildgebende Fotografie. Fotografik. Lichtgrafik. Lichtmalerei. Ursprünge, Konzepte und
Spezifika einer Kunstform, DuMont Köln 1988, 274.
(5) Florian Arndtz: Über Fotografie schreiben. Vilém Flusser, Roland Barthes, Jacques Derrida.
in: Flusser Studies online 2010, 11,
www.flusserstudies.net/sites/www.flusserstudies.net/files/media/attachments/arndtz- fotografie.pdf
gesehen am 20.04.2016.
(6) Roland Barthes: Die helle Kammer, Suhrkamp Frankfurt/M. 1985, 126.